Christoph Maria Wagner im Gespräch mit Robert Nemecek

 

Robert Nemecek: Herr Wagner, Sie zählen in der Neuen Musik noch zu den Komponisten, die sich der Tradition der musikalischen Moderne verpflichtet fühlen und diese auch konsequent fortschreiben. Nun aber überraschen Sie uns mit einer CD-Produktion, die lauter Remixe von populären Klassik-Titeln und sogar deutschen Volksliedern enthält. Überdies kommt die Remix-Technik aus der Popmusik. Aber da brauche ich als jemand, der mit dieser Musiksparte nicht so vertraut ist, wohl erst einmal etwas Nachhilfe.

 

Christoph Maria Wagner: Der Begriff kommt in der Tat aus der Popmusik, und dort gibt es ihn schon lange. Sie nehmen einen alten Hit und mischen den neu ab. Mehr heißt das ja nicht. Richtig populär wurden diese Remixe, als die Technik der DJs immer ausgefeilter wurde und man auch die Möglichkeit hatte, die Sachen kreativ neu abzumischen. In der ersten Technowelle wurde ja alles Mögliche neu abgemischt, mit anderen Grooves und Beats unterlegt. Meine Remixe haben einen direkten Bezug zu dieser populären elektronischen Musik. Ich habe daraus Verfahren wie das Looping oder das Filtern übernommen und sie auf die Neue Musik übertragen.

 

Nemecek: Wie hat das bei Ihnen angefangen? Gab es dafür einen Auslöser?

 

Wagner: Ja. Das war das Stück Delay für Klavier solo. Da wende ich diese Techniken zum ersten Mal an. Es ist ja so, dass die Populärkultur die letzten 20 Jahre die Hochkultur sehr an den Rand gedrängt hat. Und ich meine, dass die Populärkultur, ganz unabhängig davon, wie man zu ihr steht, ein Phänomen ist, das sich nicht ignorieren lässt. Auch wenn man keine Berührung dazu sucht, nimmt das ja doch schon dadurch, dass man permanent damit konfrontiert wird, in unserem Leben einen gewissen Stellenwert ein. Und das beeinflusst auch die ganze akustische Wahrnehmung.

 

Nemecek: Popmusik kann auch durchaus originell und innovativ sein.

 

Wagner: Ja. Es ist gibt da sehr interessante Tendenzen. Gerade in dieser etwas avancierteren elektronischen Popmusik gab es immer wieder Sachen, die ich reizvoll fand, und die ich dann versucht habe aufzunehmen. Und ich meine, dass eine Frischzellenkur aus dieser Richtung der Neuen Musik ganz gut täte.

 

Nemecek: Das hat es in der Musikgeschichte ja auch immer wieder gegeben. Ich denke da gerade an den Einfluss der Folklore auf die musikalische Moderne, also Bartók oder auch Janáček. An der Popmusik hat Sie natürlich weniger das musikalische Material als vielmehr die Technik interessiert.

 

Wagner: Ja. Die ganzen Produktionsverfahren, alles was das Sound-Design und die akustische Gestaltung angeht; darin sind diese Leute unglaublich gut. Davon sollten wir lernen. Ich suche aber auch für mich selbst immer wieder nach neuen Wegen. Man ist ja als Komponist immer wieder in der Gefahr, irgendein Schema zu etablieren, so dass dann bestimmte Automatismen eintreten. Ich achte darauf, dass sich das nicht zu sehr wiederholt. Und wenn man sich dann Anregungen sucht aus Ecken, die einem so ganz fern sind, dann ist das schon mal ganz erfrischend, weil man sich im Kopf umstellen und nach Mitteln und Wegen suchen muss, um das zu assimilieren.

 

Nemecek: Womit wir auch schon bei einem zentralen Programmpunkt Ihrer CD wären. In remiX IV verarbeiten Sie deutsche Volkslieder, was für einen  Komponisten der Neuen Musik mehr als ungewöhnlich ist. Steckt da vielleicht auch der Wunsch dahinter, eine Musik zu schreiben, die mehr Menschen erreicht als nur die Neue-Musik-Hörer?

 

Wagner: Also der eigentliche Ausgangspunkt der Komposition war der, dass ich mich gefragt habe: was liegt der neuen Musik so fern wie nur möglich? Was ist ein No-Go? Ganz sicher deutsche Volkslieder! Zugleich ging es mir auch darum, und da haben Sie Recht, eine Musik zu schreiben, die möglichst viele Menschen anspricht. Die Volkslieder haben mir die Möglichkeit gegeben, die Grammatik der Neuen Musik mit einem relativ einfachen musikalischen Vokabular zu verbinden. So bleibt alles verständlich. Wenn das Vokabular ganz klar ist, dann kann ich sogar differenzierter arbeiten, weil ich mich auf größere syntaktische Einheiten konzentrieren kann. Bei den Volksliedern war das für mich natürlich deshalb so spannend, weil sie tonal und so gegenläufig zu dem sind, was ich vorher komponiert habe. Das war wirklich eine Herausforderung.

 

Nemecek: Wie haben Sie denn die Lieder ausgewählt? Es sind ja insgesamt sieben Stücke, wobei das mittlere interessanterweise rein instrumental ist.

 

Wagner: Ich habe ganz bewusst Lieder aus allen Lebensbereichen ausgewählt. Es fängt an mit einem Tanzlied, dann gibt es ein Memento-mori-Lied, ein Liebeslied, ein Jäger- und ein Abendlied sowie Kinderlieder. Diese habe ich in dem instrumentalen Mittelstück, einer Art Quodlibet, verarbeitet.

 

Nemecek: Diese Sujets sprechen natürlich jeden irgendwie an.

 

Wagner: Ja. Da ist so etwas Archetypisches, Kollektiv-Unterbewusstes in diesen Liedern, zu dem jeder, ob er möchte oder nicht, eine Beziehung hat. Die Idee dabei war, anders als bei den anderen Remixen, die Aura der Lieder nicht zu zerstören. Es wäre ja nichts naheliegender gewesen als die Lieder durch den Fleischwolf zu zerren. Aber genau das wollte ich nicht. Ich habe diese Lieder sehr ernst genommen und sie nur in eine komplett andere Landschaft versetzt, die aber bestimmte Aspekte, die in der Vorlage angelegt sind, fortspinnt.

 

Nemecek: Wenn ich ein Vöglein wär ist auch bei Ihnen ein melancholisches Liebeslied, und das Lied Schnitter Tod ist eine Art Totentanz, was sich beim Hören schon durch den konstanten Rhythmus und die Dramatik des Stückes geradezu aufdrängt.

 

Wagner: Ja. Ein Teil der Vorlage ist übrigens während des 30-jährigen Kriegs entstanden. In gewisser Weise ist es ein Kriegslied.

 

Nemecek: Können Sie an einigen Beispielen darlegen, wie der Bearbeitungsvorgang abgelaufen ist?

 

Wagner: Die Idee bestand darin, dass man bestimmte Aspekte oder Fragmente von der Vorlage nimmt und sie sich selber weiter komponieren lässt. Bei dem Schnitter-Tod-Lied zum Beispiel gibt es in einem Teilabschnitt einen Siciliano-Rhythmus, den ich zum Zentralrhythmus des ganzen Stückes mache. Er wird dann überlagert und nochmal zugespitzt. Bei Wenn ich ein Vöglein wär ging es mir darum, dass sich die diatonische Melodie des Originals in das von verschiedenen Skalen und Delay-Kanons geprägte Umfeld harmonisch einfügt. Im fünften Stück schließlich gibt es eine übermäßige Sekunde, die orientalische Assoziationen weckt. Daraus habe ich eine mikrotonale pseudo-orientalische Umgebung geschaffen.

 

Nemecek: Passend dazu haben Sie sich auch noch recht ausgefallene Spieltechniken ausgedacht. Da wird zum Beispiel im zuletzt genannten Lied ein Gong ins Wasser gehalten, und auch sonst begegnet man in so gut wie allen Liedern modernen Spieltechniken. Folklore und Neue Musik sind also gut ausbalanciert. Trotzdem werden sicher nicht alle damit einverstanden sein.

 

Wagner: Nach der Aufnahme waren wir uns eigentlich alle einig, dass das eine sehr runde Sache geworden ist. Der Pianist des E-MEX Ensembles meinte nach der Uraufführung allerdings, das sei sehr mutig gewesen. Ich werde mir damit sicher nicht nur Freunde geschaffen haben. Aber das gehört eben auch dazu.

 

Nemecek: Bei den anderen Bearbeitungen haben Ihnen ausschließlich Kompositionen aus der musikalischen Hochkultur als Vorlage gedient, wobei Sie aber auch da zum Teil recht populäre Stücke gewählt haben, zum Beispiel den ersten Satz aus Mozarts Sonata facile. Die Bearbeitung fängt schon beim präparierten Klavier an, und man fühlt sich da etwas an John Cages Sonatas and Interludes erinnert.

 

Wagner: Das ist völlig richtig. Es handelt sich hierbei um den Remix einer Mozart-Sonate mit der Klanglichkeit des präparierten Klaviers von John Cage. Man könnte das doch sehr gut als Zugabe nach einem Cage-Abend spielen!

 

Nemecek: Der Stimmverlauf ist trotz Präparation sehr transparent und klar.

 

Wagner: Es ist natürlich auch so, dass man beim präparierten Klavier durch die mikrotonalen Schwebungen, besonders, wenn man Pedal dazu nimmt, gar nicht so viele Schichten überlagern kann, weil das sonst nur Chaos gibt. Von daher war es auch eine ganz reizvolle Aufgabe, mich da ganz bewusst zurückzunehmen und zu beschränken. Dafür habe ich viel mit liegendem Pedal gearbeitet, um diese Schwebungen deutlich zu machen. Das war mir eigentlich wichtiger als die perkussiven Effekte, die natürlich auch vorhanden sind.

 

Nemecek: Auch bei Ihrem Beethoven-Remix für Klavier solo haben Sie sich ein sehr prominentes Werk vorgenommen. Den Kopfsatz aus Beethovens 5. Symphonie kann man ja schon als Klangikone der abendländischen Musik bezeichnen. Beim Hören Ihres Remixʼ hat man das Gefühl, Sie wollten damit zeigen, dass man selbst dieser millionenfach abgespulten Musik immer noch neue Aspekte abgewinnen kann. War das Ihre Intention?

 

Wagner: Es geht zumindest in diese Richtung. Als ich mal die Concord-Sonate von Charles Ives gespielt habe, wo das Klopfmotiv der Fünften ausgiebig Verwendung findet, meinte ein Kollege von mir, nur ein Amerikaner könne dieses „Heiligtum der klassischen Musik“ so hemmungslos ausschlachten. Da dachte ich: schauen wir mal, ob man als Europäer nicht genauso hemmungslos herangehen kann.

 

Nemecek: Es muss Sie aber doch noch etwas anderes daran gereizt haben.

 

Wagner: Ja, natürlich. Es gibt mehrere Aspekte. Das Stück muss die Menschen bei der Uraufführung wegen seiner rohen Energie schockiert haben. Eine so starke Wirkung hat das Stück nach mehr als zweihundert Jahren natürlich nicht mehr, und ich wollte dem Stück mit meinem Remix etwas von dieser rohen, ungehemmten Energie zurückgeben. Auf der anderen Seite kann ich dadurch, dass das Hauptmotiv so prägnant ist, eine sehr komplexe Struktur darauf aufbauen, bei der das Ausgangsmaterial trotzdem erkennbar bleibt. Auf dem Höhepunkt der Coda wird das Klopfmotiv in vier verschiedenen Tempi mit sich selbst überlagert.

 

Nemecek: Das Überlagern von Klangschichten in verschiedenen Tempi ist charakteristisch für den mexikanischen Komponisten Conlon Nancarrow. War das Ihre Inspirationsquelle?

 

Wagner: Ja. Die erste Begegnung mit diesem Komponisten fand 1992 statt, als ich mit dem Ensemble Modern die Studies in einer Bearbeitung für Ensemble einstudiert habe, und das hat mich damals schon sehr fasziniert. Es gibt auch diesen Tango von Nancarrow, eines der ersten Stücke, die er wieder für lebende Pianisten geschrieben hat, und das auf drei Systemen notiert ist – immer drei gegen vier gegen fünf. Das habe ich immer sehr gerne gespielt.

 

Nemecek: Bei diesen Überlagerungen entstehen zum Teil unglaublich komplizierte Rhythmen, was nicht nur eine kompositionstechnische, sondern auch eine pianistische Tour de force ist. Aber Sie scheinen sich darin ja pudelwohl zu fühlen.

 

Wagner: Ich habe ganz offensichtlich eine Neigung zu dieser Art von Komplexität. Aber das ist ja auch das Prinzip des Delays, und wenn ich das realistisch wiedergeben möchte, muss ich zu diesen rhythmischen Komplexitäten greifen. Gerade im Beethoven-Remix gibt es freilich auch ein paar Stellen, die wirklich sehr vertrackt sind. Zum Beispiel der kurze Abschnitt ab Takt 206, in dem Tempo 80 mit Tempo 70 überlagert wird. Das könnte ich auch nicht stundenlang spielen.

 

Nemecek: Dann ist das eine dieser Stellen, die man vielleicht besser einem mechanischen Klavier überlassen sollte.

 

Wagner: Naja, man hört einem mechanischen Klavier leider auch an, dass es ein solches ist. Das hier ist ja eine Musik, die die körperliche und emotionale Intensität sowohl herausfordert als auch benötigt. Sonst kommt diese rohe Energie auch nicht zum Tragen. Man muss sich als Spieler mit vollem Risiko in diese Emotionalität hinein begeben.

 

Nemecek: Auch Leoš Janáček und Alexander Scriabin, die Sie ebenfalls remixed haben, verlangen vom Interpreten ein Äußerstes an emotionaler Hingabe, allerdings mit einer wesentlich dunkleren Färbung, die ja typisch ist für die Musik des Fin-de-Siècle. Das macht sich im langsamen Satz aus Janáčeks Klaviersonate besonders bemerkbar. Janáček betrauert da in düsterem es-Moll den Tod eines Straßenarbeiters, und das Stück trägt den Titel Smrt, also Tod. Sie haben darüber hinaus noch andere Trauer- oder Todesmusiken integriert: Themen aus Mozarts Requiem und die Todesverkündigung aus Wagners Walküre. Interessanterweise wirkt das alles ganz entrückt und überhaupt nicht bedrohlich.

 

Wagner: Genau das war ja mein Ziel. Die Idee war, Todesmusiken zu nehmen und sie in eine kristallin-meditative Klanglichkeit einzufügen, so dass das Bedrohliche verschwindet. Es ist insgesamt ja eher  lyrisch, und damit das mit den Überlagerungen transparent bleibt, habe ich die Register sehr gespreizt.

 

Nemecek: Sie meinen, dass sich alles im Wesentlichen in den ganz hohen und den ganz tiefen Registern abspielt, was ja auch sehr reizvoll ist.

 

Wagner: Genau. Wobei es sich bei dem ständig wiederholten rhythmischen Motiv im Bass um den Paukenrhythmus aus der Todesverkündigung handelt. Er wandert im weiteren Verlauf ins oberste Register und verwandelt sich gewissermaßen in ein Totenglöckchen.

 

Nemecek: Gibt es bei den ausgewählten Musiken noch andere verbindende Elemente als das Thema Tod?

 

Wagner: Ja. Ich habe Ausschnitte gewählt, in denen die Tonalität ein bisschen ausgehebelt ist. Beim Thema der Kyrie-Fuge aus Mozarts Requiem wird dies durch den verminderten Akkord bewirkt, bei den anderen Ausschnitten entsteht durch die Chromatik so ein tonaler Schwebezustand, der gut zur allgemeinen Stimmung passt. Andererseits sind die Themen sehr prägnant, so dass auf diese Weise ein interessanter Kontrast entsteht. Im weiteren Verlauf habe ich die Themenfragmente allerdings so ausgedünnt, dass sie ihren Charakter verlieren und sich im musikalischen Fluss auflösen.

 

Nemecek: In remiX V beziehen Sie sich wieder auf einen einzigen Komponisten, nämlich Alexander Scriabin. Scriabin gilt mit Arnold Schönberg als einer der großen Überwinder der Tonalität. Er ist damit einer der Ahnherren der Neuen Musik, wobei man wissen muss, dass der bedeutendste Teil seines Schaffens in der Klaviermusik liegt. Beim Hören von Remix V drängt sich der Eindruck auf, dass Ihnen an diesem Komponisten besonders viel liegt, und das mag dann vielleicht auch erklären, weshalb Remix V mit seinen 303 Takten so aufwändig und umfangreich geraten ist.

 

Wagner: Ja, das stimmt. Wenn es Scriabin nicht gäbe, würde etwas in meinem Leben fehlen. Aber eigentlich kam die Anregung von dem Pianisten Martin von der Heydt, der mich gefragt hatte, ob ich nicht etwas zum 100. Todestag von Scriabin beisteuern wollte. Da kam mir die Idee zu einem Remix.

 

Nemecek: Hatten Sie keine Zweifel an der Durchführbarkeit eines solchen Vorhabens? Die Musik Scriabins scheint dafür auf den ersten Blick nicht sehr geeignet zu sein.

 

Wagner: Doch, die hatte ich. Dann habe ich aber überlegt, welches denn die prägnantesten Stücke von Scriabin sind und wurde relativ schnell fündig. Die dis-Moll-Etüde, Vers la flamme und ein Ausschnitt aus der 4. Klaviersonate. Die dis-Moll-Etüde ist ja doch recht bekannt. Von Vers la flamme braucht man nur den Anfang zu spielen, und man ist sofort in dieser spezifischen Scriabin-Atmosphäre drin. Die 4. Sonate hat vielleicht nicht ganz diese Prägnanz, aber ich wollte auch noch eine andere Schaffensphase drin haben. Was ich nicht wollte, war die Fortschreibung des Scriabin-Stils. Das haben schon andere getan.

 

Nemecek: Anstatt dessen sind Sie mit einem sehr modernen rhythmischen Feeling an die Vorlagen herangegangen, was deren Charakter naturgemäß stark verändert.

 

Wagner: Ja. Ähnlich wie bei den Volksliedern habe ich auch hier überlegt, was Scriabin extrem fern liegt, und das ist Techno. Dieses Überspannte, teilweise auch extrem Kurzatmige, dieses ständige Rubato bei Scriabin ist ja das genaue Gegenteil von Technomusik. Auf der anderen Seite sind Scriabinʼsche Ekstase und Ecstasy auch irgendwie miteinander verwandt. Die entscheidende Idee bestand aber darin, die Scriabinʼsche Vorlage ins Repetitive zu führen.

 

Nemecek: Dafür eignet sich der Anfang der dis-Moll-Etüde ja ganz gut.

 

Wagner: Ja, weil er sehr prägnant ist, und auch das Etüdenhafte und Motorische kommt dem entgegen.

 

Nemecek: Nun kommt aber noch die Elektronik dazu. Wenn ich das richtig sehe, handelt es sich dabei um ein Loop-Band, das gleichsam aus dem Klavierpart herauswächst.

 

Wagner: Ja, so kann man es beschreiben. Wir haben alles vorab aufgenommen, jeder einzelne Loop wurde eingespielt, und dann hat Carter Williams daraus ein Loop-Band erstellt. Dieses setzt direkt nach der Klavier-Einleitung ein und spielt bis zum Schluss mit dem Klavier zusammen. Der Reiz bei diesem Verfahren mit den Loops ist halt der, dass Sie viel komplexer arbeiten und viel mehr unterschiedliche Effekte gleichzeitig bringen können.

 

Nemecek: Die enorme Steigerung in den Takten 81 bis 84, wo nach und nach elf Loops übereinander geschichtet werden, bietet dafür einen sehr überzeugenden Beleg. Die Wirkung ist jedenfalls überwältigend.

 

Wagner: Um diese Stelle rein instrumental zu realisieren, bräuchten Sie elf Pianisten auf elf Klavieren. Zum Ende hin kommt dann nochmal ein prägnanter Rhythmus mit ununterbrochener Achtelpulsierung, der den Techno-Charakter hervorhebt. Dazu erklingen elektronisch erzeugte Glissandoeffekte, und ganz zum Schluss wird das Hauptthema der dis-Moll-Etüde mit einer spektralen Mixtur dargestellt, wodurch der Klavierklang stark verfremdet wird.

 

Nemecek: Sie lassen Sie das Hauptthema zum Schluss also nochmal in frischen Farben aufleuchten.

 

Wagner: Ja. Die Verfremdung dient im Rahmen des CD-Programms aber auch als Überleitung zum präparierten Klavier des Mozart-Remixes, der ja erst nach remiX V kommt. Das hängt im Übrigen auch damit zusammen, dass das Ganze als Konzept-CD im Sinne der Konzept-Alben des Progressive Rock aus den 70er Jahren gedacht ist – was sich übrigens auch an dem kurzen Intro am Beginn der CD erkennen lässt.  Ich verstehe das Konzept-Album ja auch als eine eigene Form – eine Form des 20. Jahrhunderts, die es so vorher nicht gab. Das macht sie für mich so interessant.

 

Nemecek: Dann passt Webern als letzter Komponist, über den wir noch sprechen müssen, insofern ins Gesamtkonzept, als er die radikalste Position der musikalischen Moderne vertritt. Aber Sie schicken ihn ja wieder in eine ganz andere Richtung.

 

Wagner: Ja. Die Idee war auch hier wieder, diese sehr kompakte und konzentrierte Musik in eine Richtung zu leiten, die man am wenigsten erwartet. Nämlich in die Richtung Repetition, Loop und Groove. Wichtig ist dabei der Filter, mit dem ich aus der Zwölftonreihe immer wieder einzelne Segmente heraus greife und weiter verwende. Das beginnt mit dem Abschnitt mit den stumm gehaltenen Tönen, die eine Resonanz erzeugen.

 

Nemecek: Ich habe die stumm gehaltenen Töne als Reminiszenz an das erste der Klavierstücke op. 11 von Schönberg interpretiert. Dort gibt es diese Technik ja auch.

 

Wagner: Ja, das stimmt. In meinem Remix ist es aber so, dass die Resonanzen im Laufe des Stückes immer deutlicher werden. Die Cluster-Resonanz wird dann ins 3. Pedal gelegt, und später kommt noch das Haltepedal dazu.

 

Nemecek: Das ist natürlich eine ganz andere Klangvorstellung als Webern sie hatte. Ansonsten halten Sie sich aber weitestgehend an das vorgegebene Tonmaterial.

 

Wagner: Ja. Ich habe außer einem Bassakzent – sozusagen der Bass Drum – nur Noten von Weberns op. 27 verwendet und aus der Zwölftönigkeit immer wieder unterschiedliche tonale Felder rausgefiltert und geloopt. Die zentrale Idee des Ganzen war ja, aus einer aperiodischen oder relativ unregelmäßigen atonalen Musik durch bestimmte Filterverfahren eine tonale repetitive Musik zu erzeugen, eine Art Webern-Techno.

 

Nemecek: An diese Vorstellung muss man sich erstmal gewöhnen, und ich würde nur zu gerne wissen, wie Webern selbst darauf reagiert hätte. Es ist ja das glatte Gegenteil von dem, was er sich vorgestellt hat.

 

Wagner: Ja, es hätte ihm wahrscheinlich nicht gefallen. Allerdings ist Weberns Musik nicht immer so reduziert und asketisch, wie man glaubt. Der letzte Satz seines Konzertes op. 24 hat fast etwas Martialisches, wenn auch eingedampft auf Miniaturformat. In der Stretta lautet die Vortragsbezeichnung „Sehr flott“. Da kommt noch etwas von den tanzwütigen zwanziger Jahren durch.

 

Nemecek: Ein interessanter Gedanke. Dann hätte ihm Ihr ebenfalls recht flotter Remix ja vielleicht doch gefallen. Auf mich wirkt Ihre sehr gegenwartsbezogene Perspektive jedenfalls sehr erfrischend.

 

Wagner: Das freut mich! Die Zielsetzung dieses und auch der anderen Stücke war ja zum einen, mein kompositorisches Handwerk zu überdenken und zum anderen, komplexe Vorgänge nachvollziehbar zu machen, um das Hören neu auszurichten und diese Stücke nochmal neu wahrzunehmen.

 

Nemecek: Ich denke, das ist Ihnen wirklich gelungen. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass Ihr remiX-Projekt, bei dem Sie die Ohren nach vielen Seiten offen halten, sowohl die Klassik-Hörer als auch die Hörer von Pop- und Techno-Musik erreicht.

 

Wagner: Genau darauf ist das Projekt letztlich  ausgerichtet. Ich versuche als Komponist ja immer, die hermetisch abgeschlossenen Bezirke aufzubrechen. Dass ich damit die von Ihnen genannten Zielgruppen erreiche, ist vielleicht nur ein frommer Wunsch. Aber auch der könnte ja mal in Erfüllung gehen.